Wieder schleicht dieser Junge durch den Müll! Ganz schön heruntergekommen! — schimpfte die alte Frau. Doch bald öffnete sie ihm selbst die Tür.

LEBENSGESCHICHTE

Natürlich gräbt er nicht einfach mit den Händen im Müll — alles ganz ordentlich.

Er hebt Mülltüten mit einem Stock an und schaut, was darunter ist.

Wenn es klirrt — dann ist es eine Dose oder ein Deckel.

Auf seinen Schultern trägt er einen dicken Sack mit dem Aufnäher „Pyaterotschka“ — abgenutzt, aber noch stabil.

„Dieser Junge wühlt schon wieder im Müll! Ganz schön verrückt geworden!“ — schrie Tante Nadja vom dritten Stock, lehnte im Bademantel aus dem Fenster.

„Da, schau, er guckt schon wieder. Haben wir hier eine Müllhalde für Arme?“

Sascha drehte sich nicht einmal um.

Er zog einfach eine Blechdose Mais aus dem Müll und legte sie in seinen Sack.

„Wahrscheinlich sammelt er wieder für Chips!“ — schnaubte die Nachbarin und ging vom Fenster weg.

„Die Eltern sind bestimmt Trinker.“

Aber seine Eltern trinken nicht.

Die Mutter arbeitet den ganzen Tag bei der Post.

Der Vater ist längst weg.

Die ältere Schwester bleibt zuhause bei den Kleinen.

Sie sind zu fünft in der Familie — und noch eine Katze, auch nicht ihre eigene, eine Streunerin.

Der Junge ist elf Jahre alt.

Er heißt Alexander.

Dosen gibt er kaum ab.

Früher brachte er alles zu einer Annahmestelle.

Dort nahm ein bärtiger Mann Altmetall an, zählte Kleingeld und nickte zustimmend:

„Gut gemacht, Junge. Du faulenzst nicht.“

Es kamen zwanzig, manchmal dreißig Rubel zusammen.

Von dem Geld kaufte Sascha Brot, Seife, Nudeln.

Manchmal eine Tafel Schokolade, aber selten.

Meistens nur das Nötigste.

„Warum bist du alleine?“ — fragte der Mann einmal.

„Die Eltern wissen Bescheid?“

„Klar,“ nickte Sascha.

„Wir sind ein Team.“

„Wer ist im Team?“

„Alle. Die Familie. Ich kümmere mich ums Eisen, die Mutter ums Gehalt, die Schwester um Ordnung.“

Der Mann lachte:

„Habt ihr da eine Organisation?“

„Ja, eine multifunktionale.“

Er gräbt nicht einfach so im Müll.

Er hört zu, beobachtet und merkt sich alles.

Jede alte Dame hat ihre Gewohnheiten: wer was wegwirft.

Bei Nadja sind es gelbe Tüten mit Löchern, bei Wera in Zeitungen eingewickelt, bei Petr, der schon lange nicht mehr rausgeht, bringt der Nachbar Kartons weg.

Und jeder Müllcontainer klingt anders.

Es klirrt laut — dann ist es etwas Schweres.

Klingt es leise — wahrscheinlich eine Dose oder ein Deckel.

Er sucht das Richtige.

Doch eines Tages hörte er keinen Müll.

Es war gegen vier Uhr nachmittags.

Er stand neben dem Container und spähte hinein.

Der Wind trug Gerüche heran — etwas vergammelte Mandarinen, etwas Katzenfutter.

Und plötzlich — ein Geräusch.

Kein gewöhnliches.

Kein Fallgeräusch, sondern als wäre etwas gefallen. Lebendiges.

Er blieb stehen.

Hörte genau hin.

Stille.

Dann wieder ein leichtes Rascheln.

Und ein dumpfes Stöhnen.

Sascha ging um die Ecke, schaute unter die Treppe des zweiten Hauseingangs — dort lag eine Frau.

Wie eine Stoffpuppe.

Blass, die Augen geöffnet, aber sie sah nichts.

Er erkannte sie.

Es war die alte Dame, die ihm vor etwa zwei Jahren ein Heft geschenkt hatte.

Damals war Sascha auf dem Heimweg aus der Schule, sein Rucksack war gerissen und die Bücher fielen heraus.

Er setzte sich auf die Stufen.

Sie ging vorbei.

„Hast du was fallen lassen?“

„Ja.“

„Und wo ist dein Heft?“

„Das Papier ist alle. Ich schreibe jetzt in einem Entwurf.“

Sie zog ein neues — dickes, liniert und ganz sauber — aus ihrer Tasche und gab es ihm einfach:

„Schreib das Leben auf ein sauberes Blatt. Solange du kannst.“

Damals verstand er nicht ganz, warum sie das tat, aber er nahm es und bewahrte es auf.

Jetzt lag sie bewusstlos da.

Sascha holte sein Handy — ein altes mit Tasten und Taschenlampe.

Kein Empfang.

Nach Hause waren es hundert Meter.

Er rannte los.

Seine Mutter verstand lange nicht, was los war, dann warf sie ihre Tasche weg und rief den Krankenwagen.

Sascha kehrte zu der alten Dame zurück.

Er legte ihr ein Tuch an die Wange — genau das, das sie ihm damals vom Balkon geworfen hatte statt Wechselgeld.

Er hatte es nicht abgegeben.

„Wasser…“ flüsterte die Frau.

Er holte eine kleine Wasserflasche aus dem Rucksack und brachte sie ihr vorsichtig an die Lippen.

Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen.

Der Hauseingang war glatt, die Trage rutschte lange.

„Der Zucker fiel ab,“ sagte der Arzt.

„Gut, dass Sie es bemerkt haben. Noch ein bisschen — und es wäre zu spät gewesen.“

Sascha schwieg.

Er hatte es nicht bemerkt.

Er hatte es gehört.

Am nächsten Tag kam er zu ihrer Tür.

Der Nachbar, der das Schloss öffnete, war da.

Die Tür war einen Spalt offen.

Sascha klopfte an.

„Ich bin’s… Ich habe Sie gestern gefunden.“

Die alte Dame lag im Bett mit Tropf.

Der Fernseher lief, Werbung flimmerte im Hintergrund.

„Du bist es?“ flüsterte sie.

„Ich erkannte dich. An deinen Schuhen.“

Er schaute auf seine blauen Turnschuhe mit den abgewetzten Kappen.

„Ich dachte, vielleicht brauchen Sie etwas.“

Sie nickte schwach, als wäre das eine riesige Anstrengung.

Er stellte die Tüte an die Tür.

Darin — ein Glas Suppe, eine Packung Kekse, ein Blutzuckermessgerät (Sascha hatte es mit Rezept selbst aus der Apotheke geholt) und zwei Äpfel.

„Heute hab ich nichts abgegeben“, sagte er.

„Hab’s einfach gesammelt. Gestern auch nicht abgegeben.“

Sie streckte die Hand aus — nicht zur Tüte, sondern zu ihm.

Sie berührte seine Schulter.

„Danke dir … für das Heft.“

„Sie haben es mir doch selbst gegeben.“

„Und du hast es beschrieben.“

Im Hof verstand niemand, wohin die Tüte verschwand.

Warum Sascha nicht mehr im Müll wühlte.

Dann bemerkten sie — er ging in den zweiten Aufgang, kam mit leerer Thermoskanne raus.

Und er lächelte.

Selten, aber ehrlich.

„Wohnt er jetzt bei ihr?“ schimpfte Tante Nadja.

„Hat sie ihn vielleicht aufgenommen?“

„Oder er sie“, erwiderte ruhig Oma Vera.

„Wer weiß, wer wen rettet.“

Zwei Tage später öffnete sie ihm selbst die Tür.

Keiner Nachbarin.

Keiner Krankenschwester.

Ihm.

Leise, ohne viele Worte, als wäre es selbstverständlich.

Als wäre es immer so gewesen: er kommt — sie wartet.

Sascha stand mit einer Tüte.

Drin — Brot, Quark und Batterien.

Früher hatte sie nebenbei erwähnt, dass die Fernbedienung nicht funktioniert — und er hatte es sich gemerkt.

„Du schon wieder …“ begann sie, verstummte aber.

Sascha war schon in der Küche, packte die Einkäufe ordentlich weg.

Vorsichtig, wie zu Hause — aber ohne sich aufzudrängen.

„In der Apotheke müssen Sie die Testergebnisse abholen. Ich hab’s ins Heft geschrieben. Für den Achten.“

„In welches Heft?“

Er holte genau das — liniert.

Früher leer, jetzt bis zur letzten Zeile vollgeschrieben.

Auf der ersten Seite stand:

„Notizen. Das Wichtigste. Wer was braucht. Was man nicht vergessen darf.“

„Ich schreib alles hier auf. Damit ich nichts vergesse. Sie stehen ganz oben. Nach ‚Kartoffeln kaufen‘.“

Sie lächelte.

Zum ersten Mal breit — so, dass man sah, wie weich ihr Gesicht einmal war, vor den Falten und den Jahren.

Sascha kam jetzt regelmäßig vorbei.

Nicht täglich, aber fast.

Manchmal saß er nur da.

Manchmal las er laut aus der Zeitung.

„Die da in der Duma diskutieren schon wieder irgendwas“, las er vor.

„Verstehen Sie?“

„Versteh ich“, knurrte sie.

„Nur helfen tun die nix. Wie ein Ziegenbock Milch gibt.“

„Sie kennen die wohl schon lange.“

Sie lachte.

Er brachte — sie fütterte.

Er erzählte — sie gab Ratschläge.

Sie — Oma Vera.

Er — einfach Sascha.

Ohne Vatersnamen, ohne Nachnamen.

Keiner verband sie offiziell, aber jeder hatte jetzt eine Tür, die man bedenkenlos öffnen konnte.

Nadja spähte wieder aus dem Fenster, schimpfte aber nicht mehr — sie flüsterte nur noch missmutig:

„Kommt, geht. Wie er lebt.“

„Vielleicht lebt er halt“, meinte die Nachbarin vom fünften Stock.

„Lebendig eben. Deshalb kommt er.“

„Sieh nur, wie er sich um sie kümmert! Wie ein Pfleger. Und die Eltern?“

„Die Mutter arbeitet. Den ganzen Tag. Ich hab’s gesehen. Sie steht an der Post, und er saust vorbei wie ein Blitz. Keine Zeit für Sorgen.“

„Also ist er jetzt da und dort?“

„Und du — wo bist du?“

Das war das Ende des Gesprächs.

Fast.

Eines Tages sagte Vera:

„Ich denke, du kannst ruhig mal hier übernachten. Mein Zimmer ist klein, aber ein Platz findet sich. Du hast ja den Schlüssel. Ich hab Tee, du Gesellschaft. Ausgleich. Keine Sorge, ich melde dich nicht an.“

Sascha wurde verlegen, nickte aber.

Seitdem blieb er manchmal über Nacht.

Nicht, weil es zu Hause schlecht war.

Sondern weil es hier auch gut war.

Zu Neujahr brachte er einen Weihnachtsbaum mit.

Keinen echten, natürlich — künstlich, aus dem Schnäppchenladen, mit kleinen Fehlern.

„Wozu das?“ wunderte sich Vera.

„Sie hatten doch früher keinen. Ich erinnere mich. Letztes Jahr stand keiner.“

„Ich dachte, das ist nichts mehr für mich.“

„Na sehen Sie. Jetzt schon.“

Er stellte ihn auf.

Schmuck — aus Pappe ausgeschnitten, Lametta — aus alten Bändern.

Kugeln — aus Glühbirnen, in Alufolie gewickelt.

„Jetzt hab ich einen Enkel“, sagte die Oma.

„Mhm. Nur inoffiziell.“

„Besser so. Die offiziellen haben längst vergessen, wo ich wohne.“

„Ich hab’s aufgeschrieben.“

Im Frühling wurde Vera wieder krank.

Nichts Schlimmes, aber schwer — Schwindel, schwache Beine.

Sascha blieb jetzt öfter.

Manchmal schlief er einfach auf dem Boden, die Jacke untergelegt.

Sie schimpfte — aber nicht ernsthaft.

„Schläfst wie eine Katze — wirst auch so einer.“

„Macht mir nix. Die haben neun Leben, sagt man. Ich wär schon mit zwei zufrieden.“

Er kochte ihr Suppe, half beim Turnen nach dem Buch, las Nachrichten, kontrollierte die Medikamente.

Kam die Krankenschwester — fragte sie:

„Wer ist das für Sie?“

„Verwandter.“

„Laut Dokumenten?“

„Laut Heft.“

Einmal sagte sie:

„Ich mach’s wohl nicht mehr lang. Also … hab keine Angst.“

„Sagen Sie das nicht.“

„Wie denn sonst? Wir fürchten jedes Wort, und dann ist das Schweigen schlimmer. Wenn du da bist — ist’s leichter.“

„Ich bin da. War da und bleib da.“

Sie nickte.

„Bist du wegen des Heftes zurückgekommen?“

„Nicht nur.“

„Warum noch?“

„Weil Sie keine Angst vor mir hatten.“

„Wovor denn?“

„Ich war voller Dreck. Aus der Mülltonne.“

Vera legte ihre Hand auf seine.

„Du bist nicht aus der Mülltonne. Du bist aus dem Leben. Und das Leben ist nicht immer schön, aber echt.“

Im Mai starb sie.

Leise.

Zuhause.

Sascha war bei ihr.

Die Nachbarn weinten.

Manche brachten Blumen, andere Essen.

Eine Sozialarbeiterin kam:

„Wer kümmert sich um die Formalitäten?“

Sascha stand auf, hob das Heft.

Auf der letzten Seite stand sauber geschrieben:

„Vermache: nicht Dinge, nicht Geld. Dieses Heft weitergeben an den, der zuhören kann — tiefer als sonst. Er soll weiterschreiben.“

Er gab es seiner kleinen Schwester, neun Jahre alt.

Sie sagte:

„Ich kann noch nicht so schreiben.“

„Du lernst es. Hauptsache, du hörst zu.“

Im Sommer sah man ihn wieder bei der Mülltonne.

„Sammelt wieder Dosen“, murrte Nadja.

„Was für ein Mensch!“

Aber diesmal verurteilte ihn keiner.

Eine der Omas nickte und sagte:

„Wer weiß — vielleicht braucht bald wieder jemand ein Heft.“

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