— Halten Sie, — sagte das Mädchen und drückte mir förmlich ein Bündel in die Arme, gleich darauf eine schwere, pralle Tüte. — Bitte.
Die Bahn ruckelte an einer Gleisverbindung, und ich konnte das unerwartete Paket gerade noch festhalten.
Im Bündel regte sich etwas.
Ich schlug den Stoffrand zurück – und sah in die Augen eines Kindes.
Ein Säugling.
Lebendig, warm, mit großen braunen Augen, die mich mit seltsamem Vertrauen ansahen.
— Warten Sie! — rief ich, aber das Mädchen drängte sich schon durch die Menge aus Gärtnerinnen mit Setzlingen und Taschen zum Ausgang.
Die Türen zischten zu.
Sie sprang auf den Bahnsteig einer gottverlassenen Haltestelle und verschwand in der Dämmerung des Mais.
Der Zug fuhr weiter.
— Serjoscha, hast du das gesehen? — Ich konnte mich immer noch nicht fassen.
Mein Mann hob den Blick vom Kreuzworträtsel, sah erst mich an, dann das Kind: — Warum schreist du? Was hast du da?
— Die Frau… sie hat es mir einfach gegeben und ist weggelaufen.
Die Fahrgäste begannen sich umzudrehen.
Die Großmutter gegenüber schüttelte den Kopf: — Ein Findelkind, also. Da muss man die Polizei rufen.
Der Kleine atmete tief ein und schmiegte sich mit der Wange an meine Jacke.
Er roch nach Milch und etwas Süßlichem – wohl Babypuder.
In der Tüte raschelte etwas.
— Vielleicht sollten wir nachsehen, was drin ist? — schlug Serjoscha vor.
Er schaute hinein und wurde blass.
In der Tüte lagen Geldscheine – ordentlich gestapelte Bündel, mit Bankgummis verschnürt.
Und ein Zettel: „Er heißt Timofei. Geboren am 3. März. Verzeihen Sie.“
Bis zu unserer Station waren es noch vierzig Minuten.
Vierzig Minuten hielt ich ein fremdes Kind im Arm und wusste nicht, was tun.
Serjoscha versuchte, die Polizei zu erreichen, aber der Empfang im Zug kam und ging.
— Hallo? Ja, also… man hat uns ein Kind übergeben… Hallo?
Timofei schlummerte friedlich ein.
Sein Atem war leise, fast schwerelos.
Am Handgelenk – ein rotes Bändchen mit einem kleinen goldenen Kreuz.
— Sobald wir ankommen – fahren wir sofort zur Polizei, — beschloss Serjoscha.
Aber auf dem Bahnhof Lugowaja war der Posten geschlossen.
An der Tür hing ein Schild: nächste diensthabende Stelle – Bezirkszentrum, dreißig Kilometer entfernt.
— Wir fahren nach Hause, — ich drückte das Baby fester an mich. — Wir klären das morgen früh.
Serjoscha nickte wortlos und trug die Tüte zum Auto.
Wir fuhren schweigend.
Nur die Scheinwerfer beleuchteten die Birkenstämme, als husche jemand zwischen ihnen.
Vielleicht sie – das Mädchen, das ihr Kind einer Fremden im Zug übergeben hatte?
Zuhause wickelte ich Timofei vorsichtig auf dem Tisch aus.
Sauber, gepflegt, in einem guten Strampler.
Und in einer der Taschen fanden wir noch einen Zettel: „Keine Allergien. Trinkt Milchnahrung ‚Nutrilon‘.“
— Hör mal, — Serjoscha zählte die Geldscheine, kam aus dem Takt. — Das ist ein Vermögen.
Für ein Haus reicht das.
Für ein ordentliches Haus.
Der Kleine wachte auf und begann zu weinen – leise, ohne Geschrei, fast entschuldigend.
Ich nahm ihn auf den Arm, er schmiegte sich an meinen Pullover und wurde still.
So begann ein neues Kapitel in unserem Leben.
Am Morgen fütterte ich Timofei mit dem Fläschchen – wir hatten die richtige Nahrung im Laden gefunden – als der Dorfpolizist Petrowitsch kam.
— Zeigt mal das Findelkind, — sagte er und ließ sich auf die Bank nieder, offensichtlich war das nicht sein erster solcher Fall.
Während Serjoscha von der Zugfahrt erzählte, schaute ich auf Timofei.
Mir schnürte sich alles zusammen – gleich würden sie ihn mitnehmen.
— Gibt’s einen Zettel? Geld? — kratzte sich Petrowitsch am Kopf. — Na dann geht jetzt das Papierchaos los.
Erst ins Heim, bis die Mutter gefunden ist.
— Und wenn… wir selbst? — sagte ich unerwartet für mich, das Kind an mich gedrückt.
Petrowitsch runzelte die Stirn: — Wie meint ihr das?
— Na, wir nehmen ihn erst mal auf.
Bis ihr die Mutter findet.
Serjoscha sah mich erstaunt an.
Wir sind fünf Jahre verheiratet, Kinder hatten wir nie.
Die Ärzte sagten – alles in Ordnung, aber es klappte nicht.
— Das geht nicht, — Petrowitsch stand auf. — Man braucht Papiere, Vormundschaft…
— Petrowitsch, komm schon, sei ein Mensch, — Serjoscha holte eine Flasche Selbstgebrannten aus dem Keller.
Drei Stunden später traten sie zusammen aus der Tür.
Petrowitsch war deutlich röter im Gesicht als vorher und klopfte Serjoscha freundschaftlich auf die Schulter: — Ruf Nadjeschda Pawlowna vom Jugendamt an.
Sag, ich hab dich geschickt.
Sie hat ein gutes Herz.
Nadjeschda Pawlowna war eine ältere Frau mit gütigen, aber müden Augen.
Sie kam ein paar Tage später, sah sich das Haus an, checkte den Kühlschrank.
— Die Bedingungen passen, — nickte sie. — Aber Vorschrift ist Vorschrift.
Wir machen eine vorläufige Vormundschaft, und dann – durchs Gericht, falls die Mutter sich nicht meldet.
„Und das Geld?“, fragte Serjoscha.
„Welches Geld?“, sie sah streng über ihre Brille hinweg. „Bei dem Kind war keins. So halten wir es fest.“
Wir warfen uns einen Blick zu. Die Tüte versteckten wir im Keller, unter den Gläsern mit Gurken und Tomaten.
Es vergingen Monate eines einfachen Dorflebens, aber nun mit einem Kind.
Timofei wuchs wie im Zeitraffer – mit drei Monaten drehte er sich, mit fünf saß er, wenn er sich an meinen Fingern festhielt.
Nachbarin Njura half beim Wickeln, Baden, Breikochen.
„Ein kräftiger Junge“, sagte sie. „Der wird sicher euer eigener sein.“
Abends klebten Serjoscha und ich Tapeten im Kinderzimmer, strichen die Fensterbänke, bauten Regale für Spielzeug, das es noch gar nicht gab.
„Mascha, was, wenn sie zurückkommt?“, fragte mein Mann eines Abends.
Ich schüttelte den Kopf. Dieses Mädchen kam nicht mehr zurück.
Petrowitsch überprüfte die Kameraaufzeichnungen – nur ein verschwommenes Bild, das Gesicht war nicht zu erkennen.
„Wahrscheinlich ist sie irgendwo verloren gegangen“, seufzte er. „Hätte wenigstens ans Kind denken können.“
Aber ich glaubte nicht daran. Ich erinnerte mich an ihren Blick im Halbdunkel des Waggons – entschlossen, klar.
Sie wusste, was sie tat.
Im Herbst kamen die Unterlagen zur vorläufigen Vormundschaft.
Timofei kroch nun selbstbewusst umher, hielt sich an Möbeln fest, lachte, wenn Serjoscha Grimassen schnitt.
Und eines Tages zeigte er mit dem Finger auf meinen Mann und sagte:
„Papa.“
Serjoscha erstarrte mit dem Löffel in der Hand.
Dann breitete sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht aus, als hätte er auf diese Worte sein Leben lang gewartet.
„Papa“, wiederholte Timofei zufrieden mit sich selbst.
An diesem Abend trafen wir die Entscheidung – wir würden für die Adoption kämpfen. Bis zum Ende.
—
„Mama, ich habe mich entschieden“, sagte Timofei, als er die Küche betrat – groß, achtzehn Jahre alt.
„Ich werde mich für das Philologische Institut bewerben. Ich möchte Literatur unterrichten.“
Ich legte den Teig beiseite und wischte mir die Hände an der Schürze ab.
Von seiner leiblichen Mutter hatte er dunkle Augen und ein entschlossenes Kinn geerbt.
Alles andere war von uns: die Gewohnheit beim Essen zu lesen, die Art, am Kragen zu zupfen, die Liebe zu Tieren.
„Das Philologische Institut ist eine ausgezeichnete Wahl“, lächelte ich.
„Weißt du“, sagte mein Sohn und setzte sich an den Tisch, „ich hatte einen seltsamen Traum. Ich war im Zug, und eine Frau übergab mir etwas Wichtiges.“
Wir warfen uns erneut einen Blick zu.
Als Timofei sechzehn wurde, hatten wir ihm die Wahrheit erzählt – über den Zug, das Mädchen, den Zettel.
Er schwieg lange, dann umarmte er uns beide. Fest.
„Ihr seid meine wahren Eltern. Die, die mich großgezogen haben.“
Vom Geld erzählten wir ihm später – als Timofei älter war.
Die Tüte hatte die ganze Zeit in einer Bank auf seinen Namen gelegen.
Die Summe war beträchtlich – genug für eine Wohnung in der Stadt oder für ein eigenes Geschäft.
„Ich werde sie klug ausgeben“, versprach er. „Vielleicht gründe ich eine Schule. Oder eine Dorf-Bibliothek.“
Er war schon immer etwas Besonderes.
Mit fünf Jahren las er Silben, mit sieben erzählte er frei Inhalte von Erwachsenenbüchern nach.
Die Lehrer in der Dorfschule wussten nicht, was sie mit ihm anfangen sollten: er löste Aufgaben für höhere Klassen, schrieb Gedichte, gründete eine Theatergruppe mit Dorfbewohnern.
„Tim, das Frühstück ist fertig!“, rief Serjoscha von der Veranda.
„Komme, Papa!“
Am Tisch versammelte sich unsere kleine Familie.
Kater Barsik der Dritte schmiegte sich an die Beine, und Hund Droschok bettelte um ein Stück Pfannkuchen.
Ein gewöhnlicher Sommermorgen in Lugowoje.
„Mama, hast du es je bereut?“, fragte Timofei plötzlich. „Dass du mich damals nicht ins Waisenhaus gegeben hast?“
Ich sah meinen Sohn an – seine lebendigen Augen, wie er die Tasse hielt – genau wie Serjoscha.
Das Buch von Brodsky, das aus seiner Jackentasche ragte.
„Nicht ein einziges Mal.“
„Und wenn sie zurückgekommen wäre?“
Diese Frage beschäftigte mich viele Jahre lang.
Jedes Klingeln an der Tür ließ mich innerlich erschauern.
Doch die Jahre vergingen, und die Angst verschwand.
Timofei wurde Teil unseres Lebens – nicht durch Blut, sondern durch jeden Schritt, jede schlaflose Nacht, jedes Wort, jede Träne und jedes Lächeln.
„Ich würde ihr danken“, antwortete ich ehrlich. „Dafür, dass sie uns dich anvertraut hat.“
Mein Sohn nickte und kehrte zum Essen zurück.
Im Herbst wird er in die Stadt ziehen zum Studium.
Er wird als anderer zurückkehren – erwachsen, selbstständig.
Aber für uns wird er immer dieses Baby aus dem Zug bleiben, das unser Leben verändert hat.
Serjoscha fing meinen Blick auf und zwinkerte.
Wir haben es geschafft.
Wir haben einen wunderbaren Menschen großgezogen.
Es spielt keine Rolle, dass wir ihm nicht das Leben gegeben haben.
Wir haben ihm ein Zuhause, Liebe und Zukunft geschenkt.
Mehr braucht es nicht.
—
„Mama, mach die Augen zu“, sagte Timofei und nahm vorsichtig meine Hände. „Papa, nicht schummeln!“
„Was sind das denn für Überraschungen“, brummte Serjoscha, aber in seiner Stimme lag Freude.
Es roch nach frischen Sägespänen und Farbe.
Unter den Füßen knirschte der Kies eines neuen Weges.
Irgendwo in der Nähe heulte eine Motorsäge – es wurde gearbeitet.
„Jetzt könnt ihr schauen!“
Ich öffnete die Augen und erstarrte.
An der Stelle unseres alten, schiefen Hauses stand nun ein neues geräumiges Zuhause – mit großen Fenstern, einer Terrasse, einer Veranda und einer warmen Aura von Gemütlichkeit.
Die Stämme glänzten in der Sonne, das Dach glänzte dunkelgrün.
„Timofei… das ist…“
„Das ist euer neues Zuhause“, umarmte uns unser Sohn. „Erinnert ihr euch an das Geld? Ich habe doch gesagt, ich werde es sinnvoll ausgeben.“
Er war achtundzwanzig.
Arbeitete als Literaturlehrer in einem städtischen Gymnasium, beliebt bei den Schülern.
Kürzlich hatte er Katja geheiratet – eine Geschichtslehrerin.
„Sohn, das kannst du doch nicht machen“, wischte sich Serjoscha eine Träne ab. „Das ist dein Geld, deine Zukunft.“
„Meine Zukunft – das seid ihr“, führte uns Timofei zum Haus. „Kommt, schaut euch das Innere an.“
Es roch nach Holz und Wärme.
Eine geräumige Küche mit einem russischen Ofen – von dem ich seit Jahren geträumt hatte.
Ein Wohnzimmer mit Kamin, Regale an den Wänden warteten bereits auf Bücher.
Ein Schlafzimmer mit Blick auf den Apfelgarten.
„Und das hier?“, fragte ich und blieb an einer Tür mit dem Schild „Kinderzimmer“ stehen.
„Nun ja…“, kratzte sich Timofei verlegen am Hinterkopf – ganz wie Serjoscha. „Katja ist schwanger. Wir wollten es beim Festessen sagen, aber…“
Ich umarmte meinen Sohn und drückte mein Gesicht an seine Schulter.
Der Kreis hatte sich geschlossen.
Einst hatte uns eine Fremde ein Kind anvertraut.
Jetzt wurde unser Junge selbst Vater.
„Opa!“, rief Serjoscha und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Wahnsinn, Opa!“
„Und Oma“, lachte Timofei. „Die besten der Welt.“
Am Abend saß die ganze Familie am neuen Tisch zusammen.
Katja verteilte Salate, Serjoscha schenkte hausgemachten Wein ein.
Timofei las laut Mandelstam vor – eine alte Familientradition.
„Weißt du“, sagte er nachdenklich und legte das Buch zur Seite. „Manchmal denke ich an jene Frau. Wo sie jetzt ist? Wie ihr Leben wohl verlaufen ist?“
„Vielleicht schaut sie dich an und freut sich“, meinte Katja.
„Ich würde ihr so gern sagen…“, Timofei verstummte.
„Was?“, fragte ich leise.
„Dass alles gut geworden ist. Dass ich glücklich bin. Dass ihr Sohn in Liebe und Geborgenheit lebt. Dass das Geld, das sie uns gegeben hat, geholfen hat, ein Zuhause für die zu schaffen, die meine Familie geworden sind. Und einfach… danke. Für alles.“
Draußen zwitscherten Nachtigallen.
In unserem neuen Haus war es warm und gemütlich.
An der Wand hing das erste Familienfoto – ich mit Timofei im Arm, Serjoscha umarmt uns.
Alles war wirklich gut.