„Neuling, heute machst du die Runde allein. Die Älteren haben beschlossen, sich auszuruhen“, warf Dmitritsch, der Wachmann, der Pavels Ausbildung betreute, ihm zu.
„Nur nicht zum Leichenschauhaus gehen, sonst erschrickst du dich noch in die Hose.“
Zwei andere Wachmänner lachten.
Pavel war nicht zum Lachen zumute.
Warum sollte man über etwas scherzen, das niemand wirklich versteht?
Er glaubte immer an die Existenz einer unsichtbaren Welt.
Vielleicht sieht sie ganz anders aus, als die Leute sich vorstellen, aber da ist etwas Unerklärliches daran.
Wie sonst sollte man seltsame Fälle erklären, die man Wunder oder Zufälle nennt?
Wenn Geister wirklich existieren, wenn auch in anderer Gestalt, ist es dumm, über sie zu lachen.
Das sind doch Seelen von jemandem.
Und würde Dmitritsch es gefallen, wenn sich jemand über seine eigene Seele lustig machen würde?
Pavel schüttelte den Kopf und vertrieb diese Gedanken.
Man sollte nicht zu tief in Mystik eintauchen.
In der Privatklinik, in der sie arbeiteten, konnte man für jeden Fehler eine hohe Geldstrafe bekommen.
Man erzählte, dass einmal ein Patient das Zimmer verwechselt und mitten in der Nacht Lärm gemacht hatte – und wer hatte den Ärger?
Natürlich die Wachleute.
Und die Summe war nicht klein.
Pavel wollte sorgfältig und professionell arbeiten, um keinen Grund für Beschwerden zu geben.
Denn genau deshalb bewirbt man sich doch irgendwo – um seine Aufgaben zu erfüllen und nicht um herumzualbern.
Langsam ging Pavel den Flur entlang und überprüfte, ob alle Lampen auf gedämpftes Licht eingestellt waren.
Die Krankenschwestern hatten wie üblich gute Arbeit geleistet.
Wieder tauchten Dmitritschs Worte in seinem Kopf auf: „Kleb nicht am Pflegepersonal.“
Aber was hat das hier mit der ständigen Jagd nach Patientenleben zu tun, in der Ärzte und ihr Team stecken?
Der junge Mann lächelte leicht, stellte sich einen tapferen Ritter vor, der die Gesundheit bewacht.
Früher hatte er davon geträumt, Arzt zu werden, aber das staatliche Studienplatzangebot war ihm entgangen, und die privaten Plätze waren unbezahlbar.
Jetzt bereute er seine Entscheidung nicht.
Seine Mutter hatte einmal gesagt, er sei zu sensibel für den Operationssaal – jeder Verlust würde seine Seele verletzen.
Vielleicht hatte sie recht.
Ohne es zu merken, kam Pavel dem Leichenschauhaus näher.
In dieser Klinik kam der Tod selten vor – die Patienten verließen sie meist lebend.
Deshalb verbrachte der Pathologe seine Zeit oft mit dem Lesen von Zeitschriften und einer Tasse heißen Tee.
Pavel beneidete ihn nicht – es muss schwer sein, allein zu sitzen, wenn um einen herum das Leben pulsiert und man selbst irgendwie außen vor ist.
Als er an der Metalltür vorbeiging, hörte er plötzlich eine schwache Frauenstimme.
Jemand sang.
Leise, kaum hörbar, aber deutlich.
Die Melodie kam ihm bekannt vor, obwohl er nicht sofort sagen konnte, woher.
Er blieb stehen.
Sein Herz zog sich vor Angst zusammen.
Vor seinen Augen blitzte das Bild von Dmitritsch auf, der gewarnt hatte: „Auf keinen Fall zum Leichenschauhaus!“
Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Pavel fühlte sich unwohl.
Er hatte sich nicht verhört – der Gesang kam von drinnen.
War da jemand?
Lag dort eine Leiche?
Die Stimme wurde etwas lauter, doch plötzlich verwandelte sie sich in einen heiseren Husten, als würde jemand in der Dunkelheit ersticken.
„Ist da jemand?“ flüsterte Pavel, ohne zu wissen, an wen er sich richtete.
Die Antwort war Stille.
Nur ein Kratzen – als würden Nägel über Metall gezogen.
Pavel wurde kalt.
Was war das?
Versuchte jemand herauszukommen?
Vor seinem inneren Auge flimmerten Szenen aus den gruseligsten Filmen.
Ein beklemmendes Gefühl schnürte ihm die Brust zu.
Er hätte über Funk um Hilfe rufen können, aber was hätte er sagen sollen?
Dass er Angst vor einem Geist hatte?
Geister singen nicht.
Also… war da jemand Lebendiger drin.
Oder fast lebendig.
Egal wer.
Wenn da jemand Lebendiges gebraucht wurde, konnte er nicht einfach gehen.
Tief einatmen.
Er funkte:
„Ich öffne die Tür zum Leichenschauhaus. Ich höre Geräusche von drinnen.“
„Schon wieder ein Geist-Witz?“ schnaufte Dmitrij.
„Diese Legende ist längst zum Witz geworden.“
„Glaubt es oder nicht – ich bin nicht allein. Ich habe gewarnt.“
Den Schlüssel zu finden war nicht so einfach – besonders mit zitternden Händen.
Die Tür schwang quietschend auf, und Pavel betrat vorsichtig den Raum.
Die Taschenlampe beleuchtete den kalten Raum.
Der Geruch von medizinischen Lösungen schlug ihm in die Nase.
Pavel hielt sich das Gesicht mit dem Ärmel zu und machte einen Schritt vorwärts.
Da – ein dumpfer Klang.
Etwas fiel.
Direkt vor seine Füße – eine Hand.
Pavel sprang zurück, sein Herz schlug heftig.
Sein Hals war trocken.
Vor seinen Augen tanzten Flecken.
Ein Mädchen lag auf dem Boden.
Sie trug einen weißen Kittel, ihre Frisur war zerzaust, das Make-up verschmiert.
Im Halbdunkel hätte sie für alles Mögliche gehalten werden können – sogar für ein Wesen der Nacht.
Aber sie hatte einen Puls.
Schwach, aber vorhanden.
Sie atmete.
Fast.
Pawel zog seine Jacke aus, hüllte das Mädchen darin ein und hob sie vorsichtig auf die Arme.
Alles geschah so schnell, als ob in einem beschleunigten Film.
Er erinnerte sich nicht, wie er Alarm schlug, wie die Sanitäter sie umringten, wie ihn Kollegen verhörten.
Erst am Morgen, als der Morgen die Stadt umhüllte, kam Pawel wieder zu sich.
„Wie geht es ihr?“, fragte er als Erstes.
„Lebendig“, grinste Dmitritsch.
„Unser Geist wird überleben. Und du bist wohl ein Held. Hätte ich nicht gedacht. Du hast deine Feuertaufe bestanden. Jetzt wird die Chefetage dich ernst nehmen. Kein einziger Tag Probezeit.“
Pawel nickte.
Er hatte keinen Heldenmut gesucht.
Er konnte einfach nicht vorbeigehen.
Und erst jetzt verstand er – Angst muss kein Feind sein, sondern ein Begleiter, der hilft, den ersten Schritt dorthin zu machen, wo andere sich nicht hintrauen.
Das machte Pawel nicht glücklich.
Wenn er Angst gehabt hätte, wenn er nur eine Minute gezögert hätte – das Mädchen hätte sterben können.
Hätte sie überhaupt eine Chance gehabt, wenn jemand anderes an seiner Stelle gewesen wäre?
Dieser Gedanke verursachte Kopfschmerzen.
Pawel kehrte nach Hause zurück, aber er wollte weder essen noch schlafen.
Alte Ängste kamen hoch – aus seiner Kindheit, als man ihn in einem dunklen, feuchten Keller eingeschlossen hatte.
Er hatte geschrien, um Hilfe gerufen, aber niemand hatte geantwortet.
Wie er herauskam – daran erinnerte er sich bis heute nicht.
Seitdem hatte er vor vielem Angst.
Aber er erinnerte sich immer wieder daran: Wenn du die Angst nicht überwindest, kannst du an dem vorbeigehen, der Hilfe braucht – so wie damals an ihm vorbeigegangen wurde.
An seiner Hand war noch die Narbe vom Biss einer Ratte.
Zum Glück waren es nicht viele – sonst hätte er nicht überlebt.
Bei der nächsten Schicht rief ihn der Chefarzt zu sich.
Er teilte mit, dass Pawel offiziell auf Vollzeit eingestellt wurde und eine Prämie für seinen Mut erhielt.
„Danke, aber das ist nicht nötig“, sagte Pawel.
„Ich habe nur meine Arbeit gemacht. Darf ich das Mädchen besuchen? Ich möchte sichergehen, dass es ihr gut geht.“
„Natürlich. Kennst du die Zimmernummer?“
Pawel nickte.
Er hatte keine Blumen oder Früchte mitgebracht – er ging einfach so, um mit eigenen Augen zu sehen: Sie lebt.
Sie lebt wirklich.
Das Mädchen lag allein da und las ein Buch.
Als sie Schritte hörte, hob sie den Blick und sah Pawel aufmerksam an.
„Kennen wir uns?“, fragte sie mit sanfter Stimme.
Pawel schüttelte den Kopf.
„Ich habe Sie gehört… als Sie gesungen haben. Die Melodie kam mir seltsam bekannt vor, aber ich weiß nicht warum.“
Sie lächelte leicht, doch in ihren Augen blitzte etwas Trauriges auf.
„Sie haben mich gerettet. Danke. Ohne Sie wäre ich nicht mehr aufgewacht.“
„Warum haben Sie gesungen und nicht geschrien?“
„Zuerst habe ich geschrien. Aber niemand hörte mich. Meine Hände waren verletzt – ich hatte versucht, mich von innen zu befreien. Als meine Kräfte zu Ende gingen, wollte ich mich beruhigen. Meine Mutter sagte, dass Singen hilft. Nach ihrem Tod habe ich oft ihr Lieblingslied gesungen. So auch damals – ich fing an zu singen. Ich weiß nicht, ob es mich gerettet hat, aber es gab mir Hoffnung. Und offenbar nicht umsonst.“
Sie stellte sich als Jelena vor.
Es stellte sich heraus, dass sie ein Praktikum im Krankenhaus machte.
Ihre Kommilitonen hatten sich einen Scherz erlaubt – sie mischten ihr etwas ins Getränk.
Sie erinnerte sich an kaum etwas, außer an Gelächter und die Worte: „Der Pathologe wird sich freuen!“
Sie dachten, sie sei längst aufgewacht und nach Hause gegangen.
Aber niemand bedachte, dass der Arzt früh gehen würde und niemand kontrollieren würde, ob noch ein „Patient“ in der Leichenhalle liegt.
Wegen eines dummen Scherzes hätte sie beinahe ihr Leben verloren.
Jetzt bereuen ihre Kommilitonen es, entschuldigen sich – aber es ist zu spät.
Nur eines zählt: Pawel ging nicht vorbei.
Der Junge dachte nach.
Warum kam ihm dieses Lied so bekannt vor?
Er fand keine Antwort.
Aber er begann, Jelena zu besuchen.
Er brachte Blumen, Obst, manchmal saß er einfach neben ihr, sie plauderten über alles Mögliche.
Eines Tages erzählte Jelena eine Geschichte aus ihrer Kindheit:
„Ich war noch ganz klein. Einmal hörte ich Weinen aus einem alten Keller. Die Tür ließ sich nicht öffnen, also lief ich zu den Erwachsenen. Während ich wartete, begann ich das Schlaflied meiner Mutter zu summen. Ich dachte, das hilft dem, der da drin war, die Hoffnung nicht zu verlieren.“
Pawel lachte, fast gedankenlos.
„Warum lachst du?“, fragte sie erstaunt.
„Das war ich“, sagte er.
„Damals, in dem Keller. Du hast mich gerettet. Und jetzt ich dich. Wer hätte gedacht, dass sich unsere Wege wieder kreuzen?“
Jelena schwieg lange.
Ihre Augen wurden feucht.
„Dann hat uns das Schicksal zweimal zusammengeführt?“, flüsterte sie.
„Sieht so aus“, lächelte Pawel.
Als Jelena entlassen wurde, kehrte sie zum Studium zurück, dann zur Arbeit.
Sie trafen sich weiterhin – im Dienst, nach der Schicht, bei Spaziergängen.
Die Nähe zwischen ihnen wuchs ganz von selbst.
Ein Jahr später, als Jelena ihr Diplom verteidigt und eine Stelle gefunden hatte, beschlossen sie, ihr Leben zu verbinden.
Pawel gestand, dass er schon lange Gefühle für sie hegte, sich aber nicht traute, es zu sagen.
„Als ob ich das nicht gewusst hätte“, lachte sie.
„Ich habe dich doch auch geliebt. Ich habe nur gewartet, dass du es zuerst sagst.“
So wurden zwei Leben, die durch Zufall verbunden wurden, zu einem Ganzen.
Ihre Geschichte begann mit einem Schrei im Dunkeln, mit einem Lied in der Kühlkammer, mit einer Angst und einer Entschlossenheit.
Und auch wenn neue Herausforderungen vor ihnen lagen – sie gingen gemeinsam hindurch.
Denn solche Zufälle gibt es nicht.
Nur das Schicksal, das eine zweite Chance gibt – für die, die sie verdienen.