Ich wurde mitten im Winter geboren – ganz am Ende des Februars, wenn die Kälte die Erde noch nicht freigibt und die Hoffnung auf den Frühling wie ein Trugbild erscheint.
In einer kleinen Stadt, in der der Sommer schien, als würde er nie kommen.
Dort legte sich der Schnee schon im Dezember wie ein dichter Mantel über alles und schmolz erst langsam im April.
Die Hauseingänge rochen nach Sauerkraut, Essig, alten Wänden und Leben, die ohne besonderes Licht gelebt wurden.
Die Stadt war wie außerhalb der Zeit – als wäre sie in ewiger Trübe erstarrt, als warte sie auf etwas, das nie geschah.
Im Krankenhaus Nr. 3, in dem ich zur Welt kam, gab es auch keinen Frühling.
Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne.
Dort herrschte eine sterile Leere, dort arbeiteten Ärzte, für die meine Geburt nur ein weiterer Eintrag in der Akte war.
Sie wussten: Hier, an diesem Ort, kommt der Frühling nie.
Nicht, weil es keine Wärme geben sollte, sondern weil niemand sie erwartet.
Meine Mutter… sie weinte nicht, als sie ging.
Sie bat nicht um Verzeihung.
Sie versprach nicht zurückzukehren.
Sie unterschrieb einfach die Papiere, ließ das Gitterbett, den Geruch von Desinfektionsmitteln und den ersten Schrei des Neugeborenen zurück.
Ich erinnere mich, wie man mir eines Tages sagte, sie habe „verzichtet“.
Einfach so, kurz, als ob dieses Wort nichts bedeutete.
Für mich aber wurde es der Anfang meines ganzen Lebens.
Ich hatte keinen Nachnamen.
Nur einen Strich in den Dokumenten.
Die Krankenschwestern gaben mir einen Namen – Jaroslaw.
So nannten sie alle Jungen, die im Januar und Februar geboren wurden.
Das war ihre Art, etwas Ordnung in das Chaos der Schicksale zu bringen, das hier im Krankenhaus begann.
Eine Liste mit Namen für jeden Monat des Jahres.
Als ob sie schon im Voraus wussten, dass die meisten von uns ohne Namen, ohne Geschichte, ohne den Blick der Eltern durchs Leben gehen würden.
Man übergab mich dem Kinderheim.
Dann kam ein Internat.
Dann ein weiteres und noch eines.
Jede neue Adresse wurde Teil meiner Biografie, aber nicht Teil meines Herzens.
Niemand wollte die „Älteren“ nehmen.
Alle suchten nach Babys, denen man eine Zukunft vorstellen konnte, oder nach jüngeren Kindern, in deren Augen noch Hoffnung leuchten konnte.
Aber ich wuchs, und mit jedem Jahr wurde ich zu alt für Liebe.
Zu kompliziert.
Zu real.
Und die ganze Zeit kreiste in meinem Kopf die Frage: warum?
Warum kann eine Frau, die dich neun Monate getragen hat, einfach gehen?
Was muss im Inneren eines Menschen geschehen, dass er sich für einen Verzicht entscheidet?
Welche Angst, welcher Schmerz oder welche Verzweiflung kann stärker sein als die Bindung zwischen Mutter und Kind?
Als ich etwa zehn war, fragte ich eine Erzieherin:
— Hast du meine Mutter gesehen?
Sie zuckte nur mit den Schultern:
— Solche wie dich gibt es hier viele, Slaw.
Wir merken uns die Namen nicht.
Ihre Worte verletzten mich damals nicht.
Vielleicht, weil ich schon verstand: Für sie waren wir eher Zahlen als Namen.
Aber in meinem Herzen blieb diese Frage.
Sie wurde zu einem Stein, den ich in mir trug, bis ich die Kraft fand, ihn Stück für Stück zu zerlegen.
Als ich sechzehn war, beschloss ich, Arzt zu werden.
Nicht, weil ich Menschen retten wollte, nicht, weil ich von einem edlen Beruf träumte.
Nein.
Ich wollte wissen.
Den Körper verstehen, den Geist erfassen, in die Tiefen der menschlichen Seele blicken.
Ich wollte begreifen, warum manche aufgeben und andere weiterkämpfen.
Warum manche gebären – und sofort verschwinden.
Warum manche bereit sind, das Wichtigste aufzugeben.
So begann mein Weg.
Ich lernte, arbeitete, überlebte.
Tagsüber Vorlesungen an der Uni, abends Dienst in der Poliklinik, nachts ein Nebenjob in der Apotheke.
Ohne Beziehungen, ohne Unterstützung, ohne Rückhalt.
Nur mit Wissenshunger und einer Wut, die mich manchmal selbst erschreckte.
Mich lehrten nicht die Lehrbücher, sondern Hausbesuche, Notaufnahmen, Leichenhallen und die Gerüche von Blut, Alkohol und Kaffee, der auf Vorrat gekocht wurde.
Als ich mein Diplom erhielt, war ich vierundzwanzig.
Als ich wirklich Arzt wurde – sechsundzwanzig.
Denn ein echter Arzt wird nicht in dem Moment geboren, in dem er das Diplom erhält, sondern an dem Tag, an dem er zum ersten Mal die Verantwortung für ein fremdes Leben spürt.
Und dann, eines Tages, an einem gewöhnlichen Arbeitstag in einem Bezirkskrankenhaus, betrat ich ein Krankenzimmer und sah sie.
Eine Frau um die fünfzig.
Graue Haare, tiefe Falten, Spuren gelebter Jahre im Gesicht.
Man hatte sie nach einem Schlaganfall vom Datscha gebracht.
Eine gewöhnliche Geschichte.
Ein gewöhnlicher Zustand.
Doch als ich ihre Akte öffnete, zog sich mein Herz plötzlich zusammen.
„Schwangerschaften – 1. Geburten – 1. Verzicht – ja. Jahr – 1995.“
Geburtsdatum des Kindes – 16. Februar 1995.
Genau wie meins.
Ich ging auf den Flur hinaus.
Presste die Akte in meinen Händen, als könnte das ändern, was ich bereits verstanden hatte.
Mein Kopf dröhnte, mein Atem stockte, meine Beine gehorchten mir nicht.
Ich kehrte ins Zimmer zurück.
Sie war schon wach.
Schaute an die Decke, als würde sie Risse in Gedanken zählen.
— Guten Tag, — sagte ich.
— Ich bin Ihr behandelnder Arzt.
Sie nickte.
— Wo bin ich?
— Im Bezirkskrankenhaus.
Man hat Sie nach einem Schlaganfall hergebracht.
— Bin ich tot?
— Nein.
Noch nicht.
Sie lächelte schief, schwach, aber lebendig.
Ich sagte ihr nichts.
Ich behandelte sie einfach.
Schaute sie an.
Studierte sie.
Sie stellte Fragen – selten, oberflächlich.
Nach dem Essen, den Medikamenten, den Prognosen.
Am dritten Tag sagte sie plötzlich:
— Ihre Augen kommen mir bekannt vor.
Haben wir uns schon mal gesehen?
— Wohl kaum.
Sie sind doch aus der Stadt?
— Ich wurde hier geboren.
Aber dann bin ich weggezogen.
Später zurückgekehrt.
Pause.
— Haben Sie Kinder?
Sie zögerte.
Dann antwortete sie:
— Ich hatte eines.
Aber ich… ließ es damals zurück.
Ich war dumm.
Jung.
Angst hatte ich.
— Und heute?
Sie sah mich an.
— Ich habe ihn nie gesehen.
Ich weiß nicht, ob er lebt.
Ich hatte mein ganzes Leben lang Angst, dass er mich hasst.
Und wahrscheinlich zu Recht.
Ich nickte.
Und sagte:
— Er lebt.
— Woher wissen Sie das?
Ich sah ihr direkt in die Augen.
Langsam.
Deutlich.
— Weil er – ich bin.
Es folgte Stille.
Dicht, schwer.
Sie schrie nicht, sie weinte nicht.
Sie packte nur das Laken.
Schaute mich an wie einen Geist, auf den sie lange gewartet hatte, den sie aber nie sehen wollte.
— Du… Ich…
— Ja.
— Warum bist du hier?
— Ich arbeite.
Behandle.
Lebe.
— Wusstest du es?
— Nur aus der Akte.
Ich habe dich nie gesucht.
Aber du bist von selbst gekommen.
Sie schwieg lange.
Dann sagte sie:
— Ich bin unverzeihlich.
— Ich verlange nichts von dir.
— Willst du wissen, warum?
— Nein.
Es ist zu spät.
Pause.
— Ich hatte Angst.
Ich war vierundzwanzig.
Lebte im Wohnheim.
Der Junge war weg.
Kein Geld.
Man sagte mir – du wirst verrückt.
Ich unterschrieb den Verzicht.
Und jeden Winter, wenn der Schnee lag, dachte ich – irgendwo gibt es dich.
Dass du wächst.
Dass du vielleicht verzeihst.
— Ich trage keinen Groll.
— Warum?
Ich sah sie an.
— Weil ich ohne deinen Verzicht nicht der geworden wäre, der ich bin.
Sie blieb noch eine Woche im Krankenhaus.
Ich kam zu ihr, auch wenn ich keinen Dienst hatte.
Wir sprachen – manchmal viel, manchmal wenig, manchmal schwiegen wir einfach gemeinsam.
Manchmal schien es mir, als würden die dreißig Jahre, die uns trennten, einfach verschwinden.
Es gab keinen Schmerz, keine Vergangenheit.
Nur zwei Menschen, die plötzlich wieder nebeneinander standen.
Sie bat mich nie, sie Mama zu nennen.
Ich nannte sie nicht so.
Aber eines Tages, als ich ging, sagte sie:
— Ich bin stolz auf dich.
— Danke, — antwortete ich.
— Das reicht mir.
Und es reichte wirklich.
Denn ich hatte schon lange aufgehört, eine Mutter zu suchen.
Ich suchte nach einem Sinn. Und fand ihn in mir selbst.